Der Anblick der Ruinen eines römischen Gutshofs, die überraschend im Schatten des Waldes vor mit auftauchen, würden vermutlich jeden anderen Wanderer in Verzückung versetzen. Mir dagegen schwant spätestens hier, dass ich eine Entscheidung zu treffen habe.
Ich schiebe den Gedanken frustriert weg.
Im Morgengrauen, mit dem Segen des Gatten in der Tasche, dem Rucksack auf dem Rücken und der Lampe an der Stirn, stehe ich um 5 Uhr auf dem Weg.
Als Wanderroute habe ich mir die ersten 1 ½ Tagesetappen des Stromberg-Schwäbischen Wald-Weges (HW10) des Schwäbischen Albvereins vorgenommen. Dafür gibt es mehrere Gründe:
Er ist für mich denkbar einfach zu erreichen, verläuft er doch nur einen Kilometer von meiner Haustüre entfernt. Zweitens habe ich kürzlich die ehrenvolle Aufgabe übernommen ihn auf unserer Gemarkung als Wegewart zu pflegen. Es lag also nahe ihn auch einmal über diese Grenze hinaus kennenzulernen. Der wichtigste Grund für mich ist heute jedoch, dass die rund 56 Kilometer die ideale Trainingseinheit für die geplante Extrem-Extrem-Wanderung im Juni sind.
Vielleicht fröstele ich beim Start nur, weil der Aprilmorgen an sich noch richtig frisch ist. Vielleicht ist es aber auch die Aufregung, die jedem Aufbruch innewohnen soll und für die es auf den ersten Kilometern keinen Grund gibt.
Die Strecke kenne ich in- und auswendig. Blind – also ohne Lampe – komme ich hier zurecht. (Zu ?) oft bin ich hier schon gejoggt, geradelt und gewandert.
Erst als der Weg schließlich den Burgberg hinauf zu den Neuen Weinbergen führt, betrete ich zum ersten Mal unbekanntes Terrain. Der Aufstieg auf einem von Bärlauch gesäumten Pfad wird mit einer grandiosen Aussicht belohnt.
Nach der Querung erklimme ich den Rücken des Großen Fleckenwaldes, dessen Steilhänge doch teilweise beachtlich abfallen. Hier oben habe ich schon zwei, drei anstrengende Lauftrainings absolviert. Auch heute gehe ich zügig – bis Pforzheim ist es noch weit.
Dieser Naturpfad wirkt wundervoll verwunschen.
Erst kurz vor der Eselsburg – ein Aussichtsturm des Schwäbischen Albvereins – verläuft der HW10 wieder auf Asphalt. Durch die Weinberge führt er hinunter nach Ensingen. Ich streife diesen Weinort nur und bin schon bald über die Felder und Wiesen hinweg wieder im Wald. Geschützt vor der Sonne, die langsam an Kraft gewinnt.
3 ½ h wandere ich schon.
Ich erreiche Illingen (den eigentliche Startpunkt von Etappe 2) und überquere die B10. Am Aufstieg, der nun folgt, gehe ich ein paar Schritte rückwärts und genieße den Blick zurück auf den Ort, den Burgberg und Großer Fleckenwald. Das alles bin ich in den letzten Stunden gewandert! Ein Glücksgefühl erfüllt mich und trägt mich den Berg hinauf.
ICH KANN ALLES SCHAFFEN!
Der eben beschriebene Ausblick ist jedoch nichts im Vergleich zur Aussicht die mich oben in den Roßwager Weinbergen empfängt. Dort unten im Tal fließt die Enz. Wow!
Nach Roßwag befinde ich mich endgültig im unbekannten Land. Es begegnen mir immer mehr Menschen – man hält coronasicheren Abstand, manche verzichten sogar auf das Grüßen. Zugegeben, letzteres fuchst mich. Vielleicht projiziere ich aber nur den Ärger über den Schmerz in meinem linken Zeh missmutig auf die Leute. Ich dachte dieses Zipperlein, bekannt aus anderen Touren, hätte sich erledigt.
Aber nein, hier ist es wieder.
Mit dem Aufkommen des Schmerzes im Zeh verabschiedet sich die Freude am Unterwegssein und in mir steigt wieder dieser Wettkampfgeist auf.
ICH HABE ES MIR VORGENOMMEN – ALSO ZIEHE ICH DAS AUCH DURCH!
Sch… auf die Landschaft – sieh zu, dass du Kilometer machst!
Irgendwann bin ich Öschelbronn – den Zielort der Etappe 1.1. Meine Uhr bescheinigt mir gewanderte 38 Kilometer. Der Ort hat schöne Fachwerkhäuser, soviel fällt mir doch noch auf. Die Sonne brennt. Zum Glück bin ich bald wieder im Wald.
Im Abschnitt nach Öschelbronn führt der Weg über weite Strecke die Eppinger Linien entlang. Der gut erhaltene Graben wurde schon vor über dreihundert Jahren ausgehoben. Meine Füße stampfen den Waldweg entlang, schuften, wie damals die armen Bauern, die in Fronarbeit ab 1694 unter dem Befehl des „Türkenlouis“ (Markgraf Ludwig Wilhelm von Baden) diese Verteidigungslinie bauen mussten.
Der im Stil einer Chartaque gestaltete Aussichtsturm am Rande des Weges ist coronabedingt gesperrt. (Wie schon die Grillhütte Burgberg oder die Eselsburg.) Ich darf also den Nachbau eines Signal- und Verteidigungsturmes nicht besteigen. Darüber bin ich beinahe erleichtert. Stecken mir die bis hierhin gegangenen 43 Kilometer doch schon arg in den Beinen.
Bald nach dem Turm folge ich der Verkehrsstraße und überbrücke die A 8. Ich ertappe mich, wie den Menschen unten in ihren Blechkisten zuwinke.
Endlich erreiche ich den römischen Gutshof. Der Schmerz in meiner Zehe hat sich nicht gebessert. Aber es ist nicht unbedingt dieser Schmerz, der mich nachdenken lässt.
Es ist der Ort.
Er lädt zum Verweilen ein, macht neugierig. Vielleicht setze ich mich einfach auf eine Bank und lasse die Szene auf mich wirken? – “Nein“, treibe ich mich an, “du trainierst hier für Schneller-Höher-Weiter. Du hast keine Zeit für Sightseeing.”
Den Blick für die Landschaft versage ich mir.
Der Weg zieht sich zunehmend. Ich verliere die Lust. Die Garmin am Handgelenk zeigt eine Distanz von mehr als 50 Kilometern an. Mir wird klar, dass dies nur ein Drittel der Distanz ist, die ich im Juni wandern will. Wozu, frage ich mich?
150 Kilometer in 48 Stunden zu Fuß abspulen mit wenig oder keinem Schlaf? Für eine weitere Urkunde an der Wand? War es ernsthaft das, wofür ich wanderte? Ich quäle mich mit einer Antwort.
Der HW 10 verläuft auf dem letzten Stück hinunter zum Kupferhammer und der Pforte zum Schwarzwald auf Waldboden abwärts. Wurzeln und Steine lugen hier und dort aus der Erde und ich konzentriere mich, damit ich nicht falle. Mein Gehirn muss jedoch auch weitere Kapazitäten an die Frage vergeben haben. Denn endlich, als ich am Ziel ein Weizenbier ordere* und meinem Abholservice über die erfolgreiche Ankunft informiere, steht meine Entscheidung fest: Ja, ich möchte Weitstrecke wandern – kein Zweifel. Aber ich möchte Zeit und Muse für die Landschaft haben. So würde ich künftig eben andere Wanderungen unternehmen. Vorerst nichts extremes mehr. Vielleicht gehe ich ein Stück des E1 auf dem ich gerade zufällig stehe … Ja, so werd’ ich’s machen! Ich storniere meine Teilnahme an der Extremwanderung.
Die Geschichte hat sich am 26. April 2020 ereignet.
*Ein Bier coronakonform zu ordern ist nicht ganz einfach: Die Flache wird dir ungeöffnet überreicht, du bekommst kein Glas und musst es mindestens 50 Meter vom Lokal entfernt trinken… Selig ist, wer einen Flaschenöffner dabei hat.