So der Plan für diese Wanderwoche. Die Haustüre hinter mir zuziehen und loswandern. Nur eine Zugfahrt: von Mühlacker, dem nächstgelegenen Bahnhof (ein 12 Kilometermarsch bis dorthin), zum östlichen Terminus des Frankenwegs (HW8): Rothenburg ob der Tauber.
7:15 Uhr. Endlich! Die Haustür liegt im Schloss. 800 Schritte sind bereits auf der Fitnessuhr, ohne nur einen Wanderstiefel vor den anderen gesetzt zu haben. In der Nacht tobte ein Gewitter und ich wuselte nervös und unschlüssig durch das Haus. Das Zelt** oder mein Biwak** in den Rucksack packen? Hm?
Jetzt stehe ich in Mühlacker vor dem EDEKA, das 19 Kilo Rucksack-Monstrum geschultert und hoffe, die richtige Entscheidung getroffen zu haben: Biwak behalten, die Fleeceweste gegen einen Pullover getauscht und das Kopfkissen ersatzlos gestrichen. Bis der Zug fährt, bleibt massig Zeit. Ich gönne mir einen Kaffee zum Mitnehmen. Den schlürfe ich auf der Bank vor dem Supermarkt. Ein Mittfünfziger, den ebenfalls ein Rucksackriese begleitet, gesellt sich zu mir. Aus seinen Hosentaschen lugen Zahnbürste und Zahncremetube.
Wir erkennen die Weitwanderer ineinander und sprechen uns an. Er ist in Frankfurt gestartet und wandert bis Verona. Anfang September will er dort ankommen. Heute bei Gewitter habe er auf einer Chartaque eine nervenaufreibende Nacht verbracht. Er schlafe nur mit einer Plane geschützt und nur, wenn die Powerbank nach frischem Saft dürste, nehme er sich ein Hotelzimmer. Derzeit folge er dem Hugenotten-und-Waldenser-Pfad und habe ein Wegzeichen übersehen, jetzt suche er zurück auf den Pfad. Ein Passant belauschte unser Gespräch und quatscht mich an, nachdem der Frankfurter sich verabschiedet hat. Ungefragt erzählt er mir von seiner Bergwanderliebe. Jetzt leide er unter Epilepsianfällen. Das erlaube ihm nur noch das Flachlandwandern. Den 10jährigen Sohn entlocke er damit keine Begeisterung – ich teile meine Erfahrungen mit der ebenfalls wandermuffligen Tochter. Bemerkenswert wie wenig Berührungsängste die Leute haben, wenn man in Wanderklamotten steckt und einen großen Rucksack schleppt. Unter normalen Umständen wäre ich kaum binnen drei Minuten in seine Krankheitsgeschichte eingeweiht worden!
Bei 15.402 Schritten erreiche ich den Bahnhof Mühlacker. Der RE 19011 chauffiert mich um 11.02 Uhr gen Stuttgart. Die Zugfahrt nach Rothenburg ob der Tauber kostet rund 33,– EUR und dauert mit den drei Umstiegen fast drei Stunden. Bis zur Ankunft stimme ich mich mit dem Fernwehschmöker von Andreas Kramer „Pacific Crest Trail: 4.277 km zu Fuß von Mexiko nach Kanada**“ auf das Wandern ein.
15:50 Uhr, Rothenburg o.d.T., Innenstadt, Dönerladen.
Eben bin ich zur Touristen-Info und habe mir einen Pilgerstempel für mein Routenbuch * geholt. Leider hat mir der schwäbische Albverein die eMail nicht beantwortet, wie genau das mit den Stempeln funktioniert und wo auf der Strecke diese zu finden sind. Naja, ehe ich mich auf die Suche nach der HW8-Markierung begebe, verleibe ich mir die erste Mahlzeit des Tages ein: vegetarischer Döner mit Ayran. Wie viele Kilometer werde ich heute schaffen?
19:40 Uhr – 40.138 Schritte. Schorrenhütte bei Schrozberg.
Müde freue ich mich, im Zeitplan zu sein. Die im Buch vorgeschlagenen Etappen Rothenburg – Schöngras (10km) und Schöngras – Schrozberg (8km) habe ich abgespult. Jetzt löffle ich eine kalte Tüte Fertigreis und richte meinen Schlafplatz ein.
Tageskilometer: 30,78 Kilometer, inklusive der Wanderung zum Bahnhof Mühlacker.
6:45 Uhr, 373 Schritte.
Es ist furchtbar, wie lange es dauert, bis ich mich sortiert habe morgens. In meinem Häufchen Zeugs sitzend überlege ich, was jetzt gebraucht wird oder direkt in die Tiefen des Rucksack-Monsters wandern darf. Der „Fire-Dragon“**, ein Multi-Fuel-Kocher, wärmt Kaffeewasser auf, in das ich Instantpulver rieseln lasse. Es tröpfelt leicht und ich fühle mich wie unter den Mähdrescher gekommen, der in der Nähe die halbe Nacht auf einem Feld fuhrwerkte. Der Bauer kam so dem Regen zuvor, der jetzt zu Boden fällt. Im Dachboden der Hütte rumpelte und fiepte es ohne Pause – es klang nach der nächtlichen Geburtstagsfeier einer Marderfamilie. Aus dem Wald drang ebenfalls ein gruseliges Rascheln und Rufen. Mal gespannt, was der Tag heute bringen wird. Ich brauche erstmal Wasser … und da vorne huscht ein Marder über den Weg.
9:50 Uhr, 13.675 Schritte. Billingsbacher See.
Das Wetter ist wechselhaft; mal Sonne, dann wieder Wolken. Es weht ein kühler Wind. Der zweite Badesee am Weg heute ist gesperrt, weil die Fische „behandelt“ wurden und deshalb für den Menschen Gesundheitsgefahr besteht. Ein kurzes Stück bis Billingsbach fehlt – dann ist die erste Tagesetappe geschafft (rd. 9 km). Eben 375 kcal mit orientalischen Fertigreis nachgeladen. Wasser brauche ich dringend. Ein Liter ist mir (von vier) geblieben. Im linken Daumengelenk sitzt seit ein paar Tagen eine Entzündung und macht mir das Be- und Entpacken meines Rucksacks zur Plage. Annehmen! Locker lassen!, ermahne ich mich. 10:15 Uhr. Weiter …
13:13 Uhr; 24.279 Schritte. Bushaltestelle in Atzenrod.
Langenburg ist greifbar nah. Wenn ich heute eine weitere Buchetappe von rund 10 Kilometern anhänge, schaffe ich es bis Sonntag nach Hause. Der Lebensmittelladen in Langenburg, so ermittle ich online, hat bis um 14:00 Uhr Mittagspause. So habe ich Zeit für Mittagessen (wieder kalter Reis aus der Tüte) und Handy- und Uhrladen an der Powerbank. Mir fällt auf, dass ich bislang kein Verlangen nach Musik oder Podcasts verspürte. Im Gegenteil: Ich komme bestens ohne Berieselung klar. Außerdem gefällt es mir, zeitgleich neben dem HW 8 auf einem Pilgerweg unterwegs zu sein. (Lustigerweise der, den der Pilger vom HW 10 gegangen ist.)
Unter der Beobachtung von Milchbubis am Steuer riesiger Traktoren rühre ich mir von meinem letzten Wasser einen kleinen kalten Instantkaffee an. Ich zweifle, dass die Jungs schon im Besitz eines Führerscheins sind. Die Hohenlohe, die ich derzeit durchwandere, ist von Landwirtschaft geprägt. Auch intensiver. Vor kurzem traf ich auf den dritten Riesenstall mit Puten. 13:48 Uhr Weitermarsch.
15:22 Uhr; 30.482 Schritte. Eine Bank am Ufer der Jagst.
Die Sonne hat sich durchgesetzt. Ich wandere wieder mit Schirm. Das Warten auf den Laden in Langenburg hat nicht gelohnt: Geschlossen wegen Urlaub. Zur alternativen Wasserversorgung suchte ich deshalb auf Google-Maps-Empfehlung eine Bäckerei auf. Dort deckte ich mich mit dem hochpreisigsten Wasser ever ein: 4 Liter zu 10 EUR (!!!) und das zur billigsten Flaschenwasserqualität.
„Haben Sie noch einen Wunsch?“, fragte mich die Verkäuferin, nachdem ich acht ihrer 0,5l-Fläschchen in meine leeren Literflaschen umgefüllt habe. Die gebrauchten 1l-Pfandflaschen wollte sie nicht zurücknehmen. Nur die 0,5l, die sie selbst verkauft. „Nein!“, beantworte ich die Frage nach den weiteren Wünschen. „Möchten Sie den Kassenzettel?“ In diesem Fall: „Ja.“ – „Das ist das teuerstes Flaschenwasser, das ich mir jemals geleistet habe“, sage ich gespielt belustigt. „Die Flasche kostet eben 1,25 EUR ohne Pfand“, verteidigt sie sich. Was habe ich erwartet? Die Begeisterung für die Pilger- und Weitwanderei trägt nicht jeder Mitmensch in sich. In einem Bäckerladen, der ein Pilgerbuch in der Auslage hat, wünschte ich mir dennoch etwas mehr Enthusiasmus. Einen Mengenrabatt eventuell. Schließlich kaufte ich 8 Flachen. Oder das Angebot, Hahnenwasser abzufüllen. Vielleicht hätte ich nur Fragen brauchen?
Du lernst dich und andere jeden Tag kennen! Sei dankbar!, predige ich mir.
Und einen zweiten Pilgerstempel finde ich zu guter Letzt auch. Dabei werde ich in Langenburg den Pilgerweg verlassen (und den HW3 kurz streifen). Weiter: 15:35 Uhr.
Vor dem Schloss Stetten gibt es einen Waldfriedhof mit Baumbestattung. Der Borkenkäfer (Buchdrucker) besitzt keine Pietät und schlägt selbst hier zu. Das sieht schon übel aus. Die auf 1 Meter Höhe abgesägten Bäume mit den Namen der Toten daran …
19.15 Uhr, 43.071 Schritte.
Gegen 18 Uhr erreiche ich das Schloss Stetten. Unweit, direkt auf dem Grünstreifen, der den HW 8 darstellt, richte ich das Nachtlager ein. Der Weg und damit meine Unterkunft hat leichte Schräglage. Ich hoffe, es schläft sich trotzdem. Nach der letzten schlafarmen Nacht wären ein paar Stunden Erholung traumhaft. Stimmen dringen vom Tal zu mir herauf. Hoffentlich wandert jetzt niemand den Weg zum Chateau hinauf. … Ein Grollen kündigt ein Gewitter an.
Fortsetzung folgt …
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